Symposium ÜBER LEBEN

Vom Projekt o.T. (ohne Titel) zum Projekt „Über – Leben“

Vom „Opfer“ zum aktiven Subjekt der eigenen Geschichte. Das Projekt „Über – Leben“ zeigt vom 25. – 27. Mai 2018 in der Roten Fabrik, Zürich, mit welchen Strategien Menschen, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren, ein Überleben möglich war und wie sie ihre gestalterische Kraft zur Überwindung ihrer Opferrolle nutzten. Gespräche und Performances ergänzen die Ausstellung von Bildern, Video und Objekten.

Entstanden ist das Projekt auf Initiative eines Teams, das Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eingeladen hat, auf freiwilliger Basis in einer koordinierten Gruppe gestalterische Formen zu erarbeiten, um sich damit aktiv und eigenständig an die Öffentlichkeit zu wenden. Gestartet ist das Projekt vor eineinhalb Jahren.
Diese Herangehensweise unterscheidet sich von den bisherigen Veröffentlichungen (außer biographische Buchpublikationen), weil in diesem Projekt nicht über die Betroffenen berichtet und geforscht, sondern von ihnen selber ihre Geschichte erarbeitet und künstlerisch umgesetzt wird.

Die Gruppenarbeit ermöglichte den Gruppenmitgliedern mit ihrer kreativen Arbeit aus der Opferrolle einen Weg zu finden, um Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu werden. Diese Arbeit hat gezeigt, dass es zuweilen arge Ängste und eingeschliffene Widerstände gibt, sich aus dieser Rolle zu lösen und als Subjekt zu situieren. Die Unterwerfungsbereitschaft, gerade durch ihre persönlichen Erfahrungen, bleibt hoch. So ist es auch zu erklären, dass von den sieben Gruppenmitgliedern schliesslich vier ihre Arbeiten bis hin zum Konzept fertig stellen konnten.

Vom 25. – 27. Mai 2018 werden alle vier Beteiligten ihre Arbeiten in der Aktionshalle der Roten Fabrik Zürich ausstellen. Begleitet wird die Ausstellung von der Präsentation selbst verfasster Songs, und Sketches sowie von Gesprächsrunden mit Gästen und Betroffenen.

Die «Über-Lebenden» selbst sagen zu ihrem Projekt: Als Betroffene fürsorgerischer Zwangsmassnahmen thematisieren wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse und setzen sie gestalterisch um. Der Titel „Über – Leben“ fasst unsere Situation zusammen: In unser Leben wurde von Kindheit an eingegriffen, über unser Leben wurde fremdbestimmt. Uns wurde die Kindheit genommen und der eigene Gestaltungsraum. So waren das Überleben und das Schaffen eines eigenen Raumes eine besondere Herausforderung. Mit der Inszenierung existentieller Überlebenssituationen zeigen wir unsere „Lebens-Herausforderungen“. Als Überlebende wollen wir die BesucherInnen ansprechen und sichtbar und fühlbar machen, was „Über – Leben“ bedeuten kann.

 Das Projekt o.T.

Mit einer Fülle von Aktivitäten zur Aufarbeitung der historischen, juristischen, finanziellen, gesellschaftspolitischen und organisatorischen Fragen in Zusammenhang mit den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch) hat die Schweiz ihre Verantwortung gegenüber den Betroffenen wahrgenommen. Auffallend war, dass nebst dem aufmerksamkeitsstarken finanziellen Entschädigungsverfahren die Betroffenen vorallem beforscht und befragt werden, dass sie sich in einem Forum austauschen können, dass sie sich aber oftmals als Forschungsobjekte instrumentalisiert fühlten und ungewollt in Abhängigkeiten von Experten und Expertisen geraten sind.

Diesem Status als passive, in der Opferrolle Festgehaltene setzten wir (ein Team verschiedener Fachfrauen) das Projekt o.T. entgegen. Betroffene, die offensichtlich intelligent und zornig über die erlittenen Ungerechtigkeiten (Traumata) waren, sollten die Möglichkeit erhalten, aktive Subjekte ihrer Geschichte zu werden. Mit welchen Ideen und Mitteln dies geschehen sollte, war offen, daher der Name o.T.

Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aus der ganzen Schweiz wurden im Herbst 2015 eingeladen. Es solle in einer koordinierten Gruppe gestalterische Formen erarbeitet werden, um sich aktiv und eigenständig an die Öffentlichkeit zu wenden. Im November 2015 konnte die Gruppe starten. Dank dieser einmaligen und neuen Herangehensweise als Gruppe war es den Teilnehmenden in einem langen Prozess möglich, mit ihrer kreativen Arbeit einen Weg aus der Opferrolle zu finden und ihre Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Dies war nicht ohne Überwindung zuweilen arger Ängste, Schmerzen und eingeschliffener Widerstände möglich.

Die Initiantinnen des Projektes sind:
Mirjam Baitsch, Anthropologin, Kommunikationsfachfrau
Anita Bäumli, Psychologin, politische Wissenschaften und Geschichte
Jeannette Fischer, Psychoanalytikerin
Marion Strunk, Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin
Elisabeth von Salis, Psychoanalytikerin und Gruppenkoordinatorin
Helen Winkler, Marketingleiterin

Ausstellung Aktionstage in der Roten Fabrik 25. – 27. Mai 2018
Vernissage am Freitag 25. Mai, 18.30 Uhr
Samstag 26. Mai 11.00 bis 18.00, 13.30 Szenen und Schlötterlige 15.00 Gesprächsrunde unter der Leitung von Anke Ramöller, Theologin und Germanistin, Zürich

 

Sonntag 27. Mai 2018 11.00 bis 17.00 14.00 Szenen und Schlötterlige 15h Gesprächsrunde mit Betroffenen und Thomas Huonker, Historiker, Zürich 17.00 Finissage

 

 

 

 

Die Beteiligten

 Erna Eugster

„Ihre Mutter nannte sie schon als kleines Mädchen Dreckloch. Saumensch. Oder Lumpenhure.
Schon bald wurde die 1952 geborene Erna Eugster fremdplatziert, kam in Heime, in eine psychiatrische Klinik und immer wieder ins Gefängnis. Sie machte Erfahrungen mit Alkohol und Prostitution und den Abgründen der menschlichen und insbesondere der männlichen Psyche. Erna war aber nie der Prozess gemacht worden. Sie war in keinem Heim, in keinem Gefängnis, in keiner Klinik aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung. Es ist also nicht so, dass sie eingesperrt wurde, weil sie etwas verbrochen hätte. Sie war eine jener zahlreichen Inhaftierten, die heute unter dem Begriff „administrativ Versorgte“ zusammengefasst werden. Eine von denen, die gemäss behördlichem Befinden „nicht recht taten“, „liederlich“ waren. Und die allein deshalb, also ohne eine Straftat begangen zu haben, weggesperrt wurden. Und dies bis mindestens 1981. Im Rechtsstaat Schweiz.“ (Biographie zu „Dreckloch“ vom Xanthippe-Verlag, Zürich)

Die Arbeit „Ir Chischte“ von Erna Eugster war im Januar 2018 in einer viel beachteten Einzelausstellung im Kornhausforum Bern zu sehen.

Moritz Flisch

Im Thurgau als jüngstes von drei Kindern geboren. Bruder geboren Jahrgang 1939 . Schwester 1936 im November 1944 geboren.
Erlern geschieden als ich in die erste Schulklasse kam.
8 Jahre Primarschule. Danach 1 Jahr Welschland- Aufenthalt um französisch zu lernen in einer Boulangerie (Bäckerei) als Ausläufer 1959/60.
Danach Rückkehr in die Wohnung meiner Mutter. Ich musste sofort arbeiten gehen in der gleichen Fabrik wo auch meine Mutter arbeitete da mein Vater für Mutter und mich keinen Unterhalt bezahlte.
Später arbeitete ich in verschiedenen Firmen als Hilfsarbeiter. Wechselte hin und wieder die Stelle wenn ich wieder besser bezahlte Angebote bekam.
Zum 20. Geburtstag bekam ich dann einen Vormund.
Unter dem Diktat dieses Vormundes lief dann nichts mehr ohne Probleme. Ich musste arbeiten und der Vormund holte den Lohn ab. So wechselte ich sehr oft die Stelle. Ich musste als Hilfsarbeiter arbeiten, obwohl ich sehr gerne eine Berufslehre gemacht hätte.
Arbeit/ Hilfsarbeit auf dem Bau bei jedem Wetter war das Eine. Ende Monat aber nicht mal Lohn (der Vormund holte diesen weiterhin ab) war die andere Seite.
Ich wechselte immer wieder die Stelle bis mir der Vormund drohte dass er mich versorgen lassen werde. Ich dachte dass er dies nicht kann mit meinen guten Arbeitsleistungen.
Dieser Glaube war aber leider meinerseits Falsch. Er liess mich „Versorgen“ und ich glaubte es erst als ich in dem Arbeitshaus ankam.
Ich erhielt einen Beschluss der damaligen Behörden vorerst mal für 2 Jahre.
Aus diesen 2 Jahren wurden deren 8 (acht Jahre Zwangsarbeit) da ich mich nie damit abfinden konnte und immer wieder flüchtete.
1975 endlich schaffte ich es aus den „Häusern“ regulär entlassen zu werden und auch die Vormundschaft wurde aufgehoben.
Danach fand ich Arbeit als Hilfsmonteur. Ich arbeitete danach mehrere Jahre auf Montage wobei ich mich mit Kursen weiterbildete.
Später war ich auch auf Auslandmontage im Maschinenbau und Klimatechnik.
Anfang de 1990 iger Jahre bildete ich mich dann weiter mit Computerkursen in diesen Bereichen blieb ich dann bis heute.

Elisabeth Götz

Geboren im April 1949 in Passugg Araschgen Kanton Graubunden als 7. von dreizehn Kindern.
• Nach der Scheidung der Eltern 1958 in den Heimatort Fremdplatziert.
• Erste Pflegefamilie in Wilen Kt. Thurgau. War nicht erwünscht, da ich erst neune Jahre alt wurde.
• Zweite Pflegefamilie 1960 Fahrhof Kt. Thurgau. Die Ehe der Pflegefamilie war bereits zerrüttet nach ca. eineinhalb Jahre wurde die Ehe geschieden.
• Dritte Pflegefamilie Nachbarn im Fahrhof. In der Pflegefamilie war das vierte Kind unterwegs. Sie konnten eine Hilfe gut gebrauchen.
• Im April 1962 heiratete meine älteste Schwester und mein Schwager schrieb einen Brief an die Vormundschaftsbehörde in Chur und klärte sie über die Missstände auf.
• Im Herbst 1962 kam ich zurück zu meiner Mutter, wo ich für einige Monate, dann wechselte ich zu meiner ältesten Schwester.
• Ich absolvierte die Sekundarschule und hätte gerne das Lehrerseminar besucht. Der Amtsvormund in Chur fand ich sei zu dumm für diese Ausbildung.
• Mein Schwager, der zu dieser Zeit mein Beistand war, zog 1965 nach Kallnach im Kt. Bern an eine neue Arbeitsstelle. Ich musste mit, da ich sonst keine Bleibe hatte.
• Ich absolvierte in Biel die Aufnahmeprüfung für die Handelsschule und bestand. Ich sollte im Frühling 1966 dort zur Schule gehen. Zwischenzeitlich arbeitete ich im Spital in Aarberg in der Küche und Abwaschküche.
• Anfangs 1966 zog meine Schwager mit seiner Familie nach Basel und ich blieb alleine zurück. Hatte also keine Bleibe, damit ich dort zur Schule gehen konnte. Ich arbeitete im Spital weiter.
• Die Hausbeamtin nahm sich meiner an und bestimmte, dass ich die Spitalgehilfinnen Ausbildung machen solle. Die wurde im Jahr 1967 gegründet und ich wurde in diesem Jahr achtzehn Jahre alt.
• Während der Ausbildung arbeitete ich hauptsächlich im Operationssaal. Was ich auch nach der Ausbildung im Kantonsspital in Chur tat.
• 1969/70 Wintersaison in der Klinik Bernhard St. Moritz.
• Sommer 1970 arbeitete ich in London Aupair.
• Winter 1970/71 wieder in der Klinik in St. Moritz
• Sommer 1971 arbeitete ich in einer Kaffeebar Lugano.
• Danach arbeitete ich im OP Spital Baden.
• 1973 war ich schwanger und wechselte ins Postcheckamt Basel, da ich eine regelmässige Arbeit brauchte. Meine Tochter, die im Oktober 1973 zur Welt kam, brachte ich tagsüber in die Tagesstätte vom Frauenverein.
• 1992 absolvierte ich den Abendkurs für das KV.
• 1993 lernte ich Autofahren.
• 1995 begann ich Panflöte zu spielen.
• 2005 machte ich das AWEB Modul 1 an der Fachhochschule in Basel. Ich gestaltete vier Kurse mit einer Frauengruppe. Hat mir sehr Spass gemacht, war aber anstrengend, da ich 100% arbeitete.
• Im Jahr 2013 begann ich damit, Steine zu schleifen und gestaltete etliche Sachen. Auf Anfrage der Leiterin des Volg in Ruschein gestaltete ich Sommer- und Winterpostkarten von Ruschein und Ladir, die sie dort verkauften.

Ruzh Ruch

Ich Ruth Ruch -Götz wurde im 1947 als 6. Kind in Passugg Aaraschgen geboren. Nachher folgten noch 7 Geschwister. So waren wir 13 Kinder. Da sich meine Eltern aber scheiden liessen, wurde ich in meinem 10. Lebensjahr aus der Familie gerissen ohne meiner Mutter oder den Geschwister tschüss sagen zu können. Mein Vater nahm mich einfach mit, ich hatte keine Ahnung wo es hinging. Dachte immer es wäre ein Ausflug, aber dem war leider nicht so. Er stellte mich bei einer fremden Familie einfach ab, und liess mich dort zurück. Das war ein grosser Schock. Das war in Guntalingen. Habe viel geweint, vor allem Nachts. Doch meine Pflegeeltern waren gut zu mir. Habe viel gearbeitet nebst der Schuhle, Kinderhüten, Schuhe putzen, Hühner füttern Abwaschen und trocknen usw. Denn es war ein mittlerer Bauernbetrieb und es gab viel zu tun. . Und mit drei Mädchen wurde es mir nie Langweilig. Nun die Sehnsucht nach Hause war geblieben. Denn Aussenseiter bist und bleibt man. Habe nach der Schule ein Haushaltlehr-Jahr absolviert. Dann habe ich im Kantonsspital Winterthur gearbeitet als Hilfsschwester, in Aarberg habe ich die Spitalgehilfinnen Schuhle besucht. Das war im 1967. Da wurde ich 20. Jahre alt, und somit von der Vormundschafts Behörde entlassen. Arbeitete dann wieder in Winterthur, ging 1969 für ein Jahr nach England. Im 74 heiratete ich und wir wurden mit 2 wunberbaren Buben beschenkt, und ich wurde Hausfrau und Mutter. 1987 kam ich zur Heilsarmee und habe dort bei verschiedenen Arbeiten mitgeholfen, wo ich heute noch meine Aufgabe sehe.


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Veranstalter:in

Rote Fabrik

Die IG Rote Fabrik ist ein Verein, der die Vermittlung und Förderung von zeitgenössischer und kritischer Kultur bezweckt. Seit 1980 bietet die IG Rote Fabrik eine wertvolle Alternative für den Kulturgenuss, der fernab von Mainstream und ...

Ort

Aktionshalle

Seestrasse 395
8038 Zürich
+41 (0)44 485 58 58

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