Kino Xenix: [Dezember 2020] Laura Dern & Cinema Italiano 2020

Starikone des US-Indie-Kinos

Laura Dern – Starikone des US-Indie-Kinos
https://www.xenix.ch/programm/dezember-2020/laura-dern--starikone-des-us-indie-kinos

Stolze Weiblichkeit

Sie ist gross und schlank und breitschultrig, und sie wirkt ein bisschen schlaksig, mitunter sogar fast ein wenig ungelenk. Sie hat einen vollen Schopf blonder Locken, blaue Augen, ein offenes, freundliches Gesicht und eine fröhliche, unvoreingenommene Art. Sie könnte das sprichwörtliche All-American Girl sein, die Prom Queen, die mit dem örtlichen High School Hunk das allseits beneidete Traumpaar bildet – und augenscheinlich verkörpert sie dieses Klischee in David Lynchs BLUE VELVET (1986) bis aufs i-Tüpfelchen. Doch dann kommt dieser dunkelhaarige Typ mit dem prägnanten Kinn daher und zieht sie hinein in eine dunkle, gefährliche und höchst perverse Geschichte rund um ein abgeschnittenes Ohr und eine verstörte Nachtklubsängerin in den Fängen eines sadistischen Gangsters mit Mutterkomplex. Die Bereitwilligkeit jedoch, mit der sie sich, fast ohne zu zögern, ins Abenteuer stürzt, gibt zu denken. Es wird da eine feurige Neugier erkennbar und eine Risikobereitschaft, die mit Eigensinn zu tun hat und mit einem starken Charakter, der sich den Konventionen nicht beugt, nur weil sich das eben so gehört. Und sie trägt dann auch die Konsequenzen. Als die gequälte Sängerin Dorothy nackt am Hals von Sandys Love Interest Jeffrey hängt und stöhnt: «He put his sickness in me», da wird es ihr dann doch zu viel; da platzt der Traum von den Glückseligkeit bringenden Rotkehlchen, und die siebzehnjährige Laura Dern lässt Sandy losgreinen, indem sie diesen irren, rechteckig verzerrten Comicfiguren-Mund macht, den nur sie beherrscht und den sie in dieser denkwürdigen Szene der Filmgeschichte hinzufügt.

Dass an ihr auch eine Scream Queen verloren gegangen ist, beweist sie neuerlich in ihrer nächsten Arbeit mit David Lynch: Lulas markerschütternder «Sailor!»-Schrei steht am Beginn von WILD AT HEART (1990); und es liegt in diesem Schrei die ganze Leidenschaft, aber auch die enorme existenzielle Dringlichkeit, die diese Amour fou prägt – und die Lynch hier in Gestalt eines surrealen Roadmovies zelebriert. Auch wenn sie quasi ununterbrochen fantastischen Sex haben, sind Sailor und Lula nicht die Prom Queen und der Hunk, sondern eher die White Trash Bitch und der Juvenile Delinquent; sie sind der Schrecken der Strasse und der Albtraum der Spiesser und in ihrer Freiheit eine Herausforderung.

Über ihre Zusammenarbeit mit Lynch, die in dem von ihr auch koproduzierten Wahnsinnswerk INLAND EMPIRE 2006 schliesslich eine Fortsetzung fand, hat Laura Dern einmal gesagt: «Having been raised by actors in the seventies on films where characters were complicated and stories were not only elusive but themes were ambiguous, that to me was filmmaking.» Komplizierte Charaktere, schwer fassbare Geschichten, mehrdeutige Themen – diese Trias beschreibt viele der Einträge in Laura Derns Filmografie. Selbst wenn sie in einem Mainstream-Mega-Blockbuster wie JURASSIC PARK (Steven Spielberg, 1993) agiert, schützt sie ihre Figur, hier die Paläobotanikerin Dr. Ellie Sattler, vor gängigen Weiblichkeitsklischees. Sie adressiert diese, indem sie sie vom Tisch wischt – «we can discuss sexism in survival situations when I get back» –, und dann geht sie hin und legt sich mit den entsprungenen Velociraptoren an. Oder, in A PERFECT WORLD (Clint Eastwood, gleichfalls 1993), mit einem toughen Alphamann wie Texas Ranger Red Garnett. Der, verkörpert von His Toughness Himself, fertigt die ihm zugeteilte FBI-Kriminologin zunächst reichlich kühl ab. Um sodann festzustellen, dass die das nicht nur nicht im Geringsten anficht, sondern dass es ihr sogar gelingt, ihn mit ihrem Einfühlungsvermögen aus der Reserve zu locken. Denn so viel ist sicher: Eine Figur von Laura Dern schämt sich weder jemals ihres Frauseins noch begreift sie es als Schwäche.

Den Beweis hierfür spielt sie 1991 in Martha Coolidges heissem Südstaatendrama RAMBLING ROSE an der Seite ihrer Mutter Diane Ladd, für das die beiden dann auch in der Kategorie Beste Haupt- respektive Beste Nebendarstellerin für einen Oscar nominiert werden. Titelheldin Rose, aus einfachen Verhältnissen stammend, wird von der wohlsituierten Familie Hillyer als Haus- und Kindermädchen aufgenommen und mischt in der Folge mit ihrer so ungebremsten wie unschuldigen sexuellen Energie die ganze Gegend auf. Es entwickelt sich ein Tauziehen zwischen patriarchalem Domestizierungsbemühen weiblicher Triebenergie und matriarchalem Beharren auf lustvoller Selbstbestimmung, das vor allem mit seinem völligen Verzicht auf verlogene Schönfärberei überzeugt.

Laura Elizabeth Dern, geboren am 10. Februar 1967 in Los Angeles, ist ein Schauspielerkind; Tochter von Diane Ladd und Bruce Dern, die sich allerdings scheiden lassen, als sie zwei Jahre alt ist, sodass Laura den Kontakt zu ihrem Vater einige Jahre lang verliert. Das Mädchen wächst auf Filmsets auf und findet sich von Kindesbeinen an bereits vor der Kamera – als Statistin in einer zentralen Szene in Martin Scorseses ALICE DOESN’T LIVE HERE ANYMORE verdrückt sie 1974 legendäre neunzehn Portionen Bananeneis –, obgleich ihre Mutter von der Vorstellung, dass die Tochter in ihre Fussstapfen tritt, wenig begeistert ist. Eine erste grössere Rolle als Bassistin einer Punkband in Lou Adlers LADIES AND GENTLEMAN, THE FABULOUS STAINS (1982) setzt der Teenager denn auch gerichtlich gegen die Mutter durch. Doch rebellisch ist Laura Dern nicht aus Prinzip oder weil das eine schicke Pose ist, sondern weil sie ganz offenbar selbstständig denkt und ihre Überlegungen ebenso offenbar in einer eher unkonventionellen Rollenwahl resultieren. Bei welcher Gelegenheit sie regelmässig beiläufig, doch jedes Mal mit erkennbarem Vergnügen, auch jenes überkommene Klischee pulverisiert, demzufolge Blondinen nicht die Hellsten seien.

Wieder und wieder gelingt Dern mit ihren Frauenfiguren eine unverwechselbare Kombination aus Herzensgüte, stolzem Bürgersinn und unabhängigem Geist: in Kelly Reichardts CERTAIN WOMEN (2015/16) als von vielen Widrigkeiten müde gewordene, doch nicht gebrochene Anwältin; in Edward Zwicks TRIAL BY FIRE (2018) als unvoreingenommen einem zum Tode Verurteilten Beistehende; in Greta Gerwigs LITTLE WOMEN (2019) als Mutter, die die Unkonventionalität ihrer Töchterschar ermuntert. Und immer nutzt sie Gelegenheiten, die Handlungsräume der Frauen zu erforschen: ob in der Rolle der schwangeren Drogensüchtigen, die zum Spielball von Abtreibungsgegnern wie -befürwortern wird (CITIZEN RUTH, Alexander Payne, 1995/96); oder in der Dokumentarfilmerin, die aus verfälschten Erinnerungen den Missbrauch ihres Kindheits-Ichs freilegt (THE TALE, Jennifer Fox, 2017/18). Laura Dern bleibt solidarisch. (Alexandra Seitz)


Cinema Italiano 2020

https://www.xenix.ch/programm/dezember-2020/cinema-italiano-2020

Wie vielfältig das aktuelle italienische Filmschaffen ist, zeigen die für die diesjährige Ausgabe von «Cinema italiano» ausgewählten Titel. Diese bedienen zwar unterschiedliche Genres, sind aber jeweils Themen von universeller Gültigkeit gewidmet. Damit steht für einmal nicht das spezifisch Italienische, sondern vielmehr das Beispielhafte und Übergeordnete im Vordergrund.

In seinem zweiten Langspielfilm, IL COLPO DEL CANE, stattet Filmemacher Fulvio Risuelo seine weiblichen wie männlichen Protagonisten mit der Fähigkeit aus, sich in der schlimmsten Krise über Wasser halten zu können – wenn auch mit absonderlichen Gelegenheitsjobs. Entstanden ist eine verrückte Komödie nach dem Motto «Du hast keine Chance, aber nutze sie».

Äusserst faszinierend ist die Art und Weise, wie in PALAZZO DI GIUSTIZIA der Alltag in einem grossen Gerichtsgebäude eingefangen wird: Chiara Bellosi legt den Fokus ihrer dokumentarisch-nüchternen Bilder nicht etwa auf die Verhandlung selbst, sondern auf die Angehörigen von Beschuldigten und Vorgeladenen, die auf harten Bänken vor dem Gerichtssaal warten – und irgendwann das labyrinthische Gebäude zu erkunden beginnen.

Auf eigenen Erfahrungen beruht der Culture Clash, den Phaim Bhuiyan, ein in Rom aufgewachsener Jungregisseur mit bengalischen Wurzeln, in BANGLA schildert. Sein wohltuend selbstironischer Kinoerstling ist eine ebenso intelligente wie unterhaltsame, im Stadtteil Torpignattara angesiedelte romantische Komödie, die ebenso in Berlin, Paris oder London spielen könnte.

Persönlich schliesslich LA SCOMPARSA DI MIA MADRE, Beniamino Barreses Porträt seiner 75-jährigen Mutter, das vor allem auch eine intensive Auseinandersetzung mit dieser ist: Der Dokumentarfilm thematisiert das selbstbestimmte, würdevolle Altern einer Frau mit starker Persönlichkeit und glamouröser Vergangenheit, die sich als einstiges Supermodel zur engagierten Feministin und Bilderhasserin entwickelt hat.

Ergänzt werden die Festivaltitel im Xenix durch die exklusive Premiere von Pietro Marcellos fesselndem Klassenkampfdrama MARTIN EDEN, das auf Jack Londons gleichnamigem Entwicklungsroman über einen Autodidakten beruht, sowie durch Mario Martones eigenwilliges, mit den Mitteln des Theaters inszeniertes Gangsterdrama IL SINDACO DEL RIONE SANITÀ. (René Moser)

Das Tourneefestival «Cinema italiano» findet wie in den Jahren zuvor unter der Schirmherrschaft der italienischen Botschaft in Bern statt und bringt aktuelle Filme unseres südlichen Nachbarlandes als Premieren in die Deutschschweizer Kinos. «Cinema italiano» wird organisiert von Cinélibre (Bern) und Made in Italy (Rom) in Zusammenarbeit mit dem italienischen Kulturinstitut Zürich und gefördert durch das Ministero per i Beni e le Attività Culturali Direzione Generale per il Cinema (Rom).


zur Website der Veranstalter:in

Veranstalter:in

Kino Xenix

Kein Kiesplatz der Stadt ist so authentisch wie jener des Kanzleiareals im hektischen Kreis 4, wo das Kino Xenix und die Xenix-Bar stehen. Ein Zuhause für Filme, ein Raum für cineastische Entdeckungen und sorgfältig kuratierte Programme, für ...

Ort

Kino Xenix

Kanzleistrasse 52
8004 Zürich
+41 (0)44 242 04 11
kasse@xenix.ch

Dein Weg

Zugänglichkeit:

Das Kino Xenix kann mit dem Rollstuhl über den Haupteingang zur Bar erreicht werden. Die Toilette befindet sich in der Bar. 
Der Kinosaal bietet zwei Plätze für Personen mit Rollstuhl. (Voranmeldung unter kasse@xenix.ch oder 044 242 04 11 empfohlen.) 

Parkplatz: Für gehbehinderte Fahrzeuglenker:innen gibt es die Möglichkeit, auf dem Kanzleiareal zu parkieren. Bitte vorab anmelden: admin@xenix.ch oder 043 322 13 81

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