Kino Xenix: [Oktober 2020] Das Kino der Nullerjahre

Filmische Highlights aus den 2000er Jahren

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https://www.xenix.ch/programm/oktober-2020/das-kino-der-nullerjahre

Es war im Jahr 2005, Halbzeit der Nullerjahre, als im kalifornischen Los Gatos in der Nähe von San José eine Videothek die magische Marke knackte. Eine Million DVDs verschickte sie damals jeden Tag, per Post. Das Geschäftsmodell des aufstrebenden Ladens beruhte im Wesentlichen auf drei Faktoren: Man zahlte nur eine monatliche Flatrate ohne zusätzliche Leihgebühren, konnte die DVDs bequem im Netz bestellen – und musste sie dann nicht mal selber abholen, sondern bekam sie ins Haus geliefert. Das also war der vierte und vielleicht wichtigste Faktor für den Erfolg dieser Videothek: die Zuverlässigkeit der amerikanischen Post.

Zwei Jahre später war das Web so weit, dass der Laden sein Angebot in eine Richtung ausbauen konnte, für die er die Post nicht mehr nötig hatte – und DVDs schon gar nicht: Streaming. Der Name dieser Videothek: Netflix.

Wenn das Kino damals schon einiges von seiner Definitionsmacht einbüsste, so lag das nicht an Netflix. Der kulturelle Diskurs verlagerte sich von den abendfüllenden Werken im Kino zusehends auf die neuen grossen Erzählungen im Heimkino, die mehr als nur einen Abend füllten: Wer mitreden wollte, musste nicht mehr unbedingt den neuen Tarantino gesehen haben, sondern ambitionierte Serien wie THE SOPRANOS, SIX FEET UNDER oder THE WIRE. Zugleich scheint das Kino der Nullerjahre im Rückblick auch in eine selige Unwissenheit getaucht – das letzte Jahrzehnt, in dem die alte Filmkunst noch nichts von den disruptiven Kräften des Streamings ahnte.

Wer damals zum Beispiel nach Korea schaute, begegnete neuen Namen wie Park Chan-wook oder Bong Joon-ho, die das Genrekino mit neuen Impulsen versorgten. Oder entdeckte den stummen Filmhelden, der in fremde Häuser einsteigt, sich dort in Abwesenheit der Besitzer wie zu Hause fühlt und für sie sogar die Wäsche macht – das war BIN-JIP von Kim Ki-duk, ein einsamer Vorläufer der Familie aus PARASITE, mit dem der Boom des koreanischen Kinos anderthalb Jahrzehnte später endlich auch bei den Oscars ankommen sollte. In Hollywood war man in den Nullerjahren gerade erst so weit, die aufregenden neuen Autoren aus dem südlichen Nachbarland zu adoptieren: Alfonso Cuarón, Guillermo del Toro, Alejandro González Iñárritu. (Wenn sie in diesem Programm fehlen, dann nur deshalb, weil sie das Xenix kürzlich gesondert würdigte.)

Aber kann man nun anhand von etwas mehr als zwei Dutzend Filmen das Profil eines Jahrzehnts erstellen? Kann man entlang ihrer Motive gewissermassen die Obsessionen einer Zeit kartografieren? Versucht man das mit den 26 Filmen dieses Programms, muss einem sogleich angst und bange werden. Das Phantombild jener Zeit, es gleicht dem Porträt eines Psychopathen.

Eine Schneise der Gewalt zieht sich durch dieses Jahrzehnt – zunächst noch in der schwerelosen Eleganz von Ang Lees CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON, bald schon im frenetischen Puls der Jugendgewalt in CIDADE DE DEUS. Da ist, basierend auf zu vielen realen Begebenheiten, der Amoklauf an einer Highschool in ELEPHANT, und da ist, fünf Jahre später, der grossmäulige Irrsinn der jugendlichen Mobster von GOMORRA. Da sind aber auch die diversen Racheengel auf ihren mehr oder weniger epischen Vergeltungszügen gegen die, die ihnen unrecht taten: zuvorderst natürlich Uma Thurman als Braut in Tarantinos KILL BILL, aber auch die beiden Gefährtinnen in BAISE-MOI, die als «partners in crime» das sexistische Regime der Männer so lustvoll wie rabiat umkehren, bis hin zum Hammermann in Park Chan-wooks OLDBOY, der fünfzehn Jahre lang in einer fensterlosen Zelle eingesperrt war und sich jetzt an seinem Peiniger rächen will – bis er realisiert, dass seine Isolationshaft selber schon Teil einer langfristig angelegten, ausgeklügelten Racheaktion war.

Da ist ungeheuer viel Lust am Schmerz – an den Schmerzen, die man anderen zufügt, aber manchmal auch sich selbst. Isabelle Huppert macht sichs mit der Rasierklinge in Michael Hanekes LA PIANISTE, bei Christopher Nolan in MEMENTO ist es die Nadel, mit der sich der hilflose Protagonist seine wichtigsten Erinnerungen unter die Haut hat schreiben lassen, weil sein Gedächtnis nicht mehr richtig funktioniert – ein Mann, im Wortsinn gezeichnet von seiner Identitätskrise. Andere lassen sich ihre schmerzlichen Erinnerungen freiwillig löschen, in der Hoffnung auf einen neuen Anfang in der Liebe, in Michel Gondrys ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND. Und am Ende des Jahrzehnts, in DOGTOOTH von Yorgos Lanthimos, schlägt sich die erwachsene Tochter mit einer Hantel eigenhändig die Eckzähne aus, weil die Kinder gemäss der erfundenen Folklore ihres despotischen Vaters erst dann aus dem Haus dürfen, wenn ihre sogenannten «Hundszähne» ausgefallen sind. Es ist eine bitterböse Allegorie des Patriarchats als Tyrannei einer falschen Idylle, mit einer passiven Mutter, die die väterliche Ideologie aufrechterhält, indem sie den Kindern die falschen Wörter für die Dinge beibringt. «Mama, ich hab ein Zombie gefunden!», ruft der Sohn einmal aus dem Garten und zeigt auf ein Blümchen.

Extrem dysfunktional, das alles, und die nächste Stufe heisst: Selbstzerstörung, Todestrieb. Da fährt einer buchstäblich gegen die Wand im gleichnamigen Film von Fatih Akin und findet im rückhaltlosen Exzess eine Liebe, die genauso selbstzerstörerisch getrieben ist wie er. Andere mauern sich ein auf ihrem kleinen Flecken Heimat und kappen so die Luft und das Licht in ihrem Leben: ein abgeschiedenes Paradies, umfunktioniert zum Bunker, weil die Autobahn vor dem Haus eines Tages plötzlich doch noch fertig gebaut wurde und jetzt draussen vor der Tür die Hölle los ist – wieder Isabelle Huppert, diesmal in Ursula Meiers HOME.

So weit die Motive. Und deren Gestaltung? Verblüffend, wie sehr ein Film wie Gus Van Sants ELEPHANT hier aus dem Rahmen fällt: diese wie schwerelos gleitenden Steadicam-Fahrten durch die Schulhauskorridore, dieser feinfühlig distanzierte Blick auf die jugendlichen Gesichter und den unscheinbaren Alltag im Vorfeld der Bluttat. Wahnsinn, wie frisch dieser Film immer noch wirkt – siebzehn Jahre her, keine Sekunde gealtert. In seiner weichen Beiläufigkeit wirkt das wie aus der Zeit gefallen, denn stilistisch ging es damals verschärft in die Gegenrichtung. Der militante Exploitation-Trash von BAISE-MOI, das hyperreferenzielle Fetischkino von KILL BILL, die reisserische Bildsprache von CIDADE DE DEUS oder OLDBOY: Das Kino der frühen Nullerjahre ist gesteuert vom Willen zu krassen Affekten.

Ist die Gewalt die obszöne Kehrseite der Zivilisation oder ihr uneingestandenes, notwendiges Fundament? Was ist Gesetz, was ist Verbrechen? Diese Kategorien geraten ins Rutschen in den Filmen jener Jahre. Zum Beispiel INFERNAL AFFAIRS in Hongkong: Ein Polizist und ein Gangster sehen sich plötzlich gespiegelt in vertauschten Rollen, weil jeder von beiden als Maulwurf in der Domäne des anderen eingeschleust wird. Bin ich als Cop auch nur das Spiegelbild des Mobsters? Oder der ehrgeizige junge Häftling in Jacques Audiards Un PROPHÈTE: Dank dem untrüglichen Machtinstinkt, mit dem er sich durch dieMilieus manövriert, steigt er im Gefängnis zum Gangsterboss auf – die Strafanstalt als Hochschule des Verbrechens.

Kein Film aber spielt diese Ambivalenz zwischen Gewalt und Ordnung so konsequent durch wie A HISTORY OF VIOLENCE von David Cronenberg. Die Unsicherheit, ob Viggo Mortensen als allseits geschätzter Cafébesitzer und fürsorglicher Familienvater eine mörderische Vergangenheit verbirgt, also in Wahrheit ein brutaler Gangster ist, weicht hier einer Gewissheit, die viel unheimlicher wirkt als der Zweifel: dass nämlich keines seiner beiden Gesichter wahrhaftiger ist als das andere. Und wenn beide gleichermassen wahr sind, so ist auch klar, welches von beiden die sexuellen Fantasien seiner Frau eher anstachelt.

Ach, und die Liebe? Die gibt es, doch. Pastellfarben und platonisch, wie in Sofia Coppolas generationenübergreifender Jetlag-Romanze LOST IN TRANSLATION. Oder unsterblich verträumt in der Endlosschlaufe von Wong Kar-wais IN THE MOOD FOR LOVE. Die zarteste Vorstellung von der Liebe aber findet man dann doch wieder in BIN-JIP, wo der diskrete Einbrecher im Gefängnis das Verschwinden trainiert, damit er im Haus seiner Geliebten wohnen kann, als heimlicher Gast und unsichtbarer Schatten ihres Ehemanns. Ganz zum Schluss sehen wir die Füsse der beiden Liebenden, die gemeinsam auf einer Waage stehen. Das Gewicht der beiden hebt sich gegenseitig auf: Die Waage zeigt auf null. (Florian Keller)


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8004 Zürich
+41 (0)44 242 04 11
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Das Kino Xenix kann mit dem Rollstuhl über den Haupteingang zur Bar erreicht werden. Die Toilette befindet sich in der Bar. 
Der Kinosaal bietet zwei Plätze für Personen mit Rollstuhl. (Voranmeldung unter kasse@xenix.ch oder 044 242 04 11 empfohlen.) 

Parkplatz: Für gehbehinderte Fahrzeuglenker:innen gibt es die Möglichkeit, auf dem Kanzleiareal zu parkieren. Bitte vorab anmelden: admin@xenix.ch oder 043 322 13 81

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