Zürich im Chor-Fieber

Das Singen im Kollektiv liegt im Trend. Nicht ganz unschuldig am Boom: der Zürcher Hardchor.

Ein kalter Dezemberabend kurz vor Weihnachten. 25, vielleicht 30 vermummte Gestalten schreiten langsam die schmale Treppe vom Lindenhof in Richtung Rennweg hinab, manche haben Conquest of Paradise von Vangelis auf den Lippen, als müssten sie sich Mut ansummen. Immer mehr Passant:innen bleiben stehen, die Eingeweihten haben bereits die Handykameras gezückt, als die Formation Aufstellung nimmt. Süssliche Glühweinschwaden und angespannte Erwartung liegen in der Luft. Kurz könnte man meinen, der Singing Christmas Tree vom Werdmühleplatz sei flügge geworden. Dann: der erste Gitarrenakkord, nach und nach setzen die Stimmen ein. «You are my fire, the one desire …» schallt es durch die Altstadt. Dass die Versammlung nicht etwa der Lobpreisung des Jesuskinds gilt, dürfte den meisten spätestens jetzt klar sein. Hardchor nennt sich der Chor, der in der Weihnachtszeit Boyband-Klassiker statt Christmas Carols lauthals aus den Lungen drückt.

«Der Auftritt im Dezember war der Höhepunkt bisher.» Oliver Saigers Augen leuchten, als er vom Überraschungskonzert in der Zürcher Altstadt erzählt. Ein Jahr zuvor war ihm die Idee zum Chor gekommen. «Ich hatte schon seit Jahren Lust, zu singen, hab aber unter den Chören in Zürich nichts Passendes gefunden.» Deswegen: selbst ist der Chorgründer. Gemeinsam mit zwei Freund:innen hat er das Projekt im vergangenen Frühjahr ins Rollen gebracht. Seither wird alle zwei Wochen in einer Autogarage am Oberen Letten geprobt.

Alle Bilder (c) Orazio Guarnieri 

Am Anfang waren es knapp zwölf Singwillige, die sich zwischen Töffs und Motorenöl an Songs von Lana del Rey und Bruce Springsteen versucht haben; inzwischen kann man eine Null hinten anhängen. «Nach dem Auftritt vor Weihnachten gab es einen regelrechten Hype, immer mehr wollten mitmachen», kommentiert Oli den rasanten Anstieg der Mitglieder im Chat, über den sich die Singtruppe organisiert. Rund ein Viertel davon taucht am Ende bei den Proben auf. Viele mehr würden auch kaum in die Autogarage passen. 

«Es geht um den Spass am Singen – und nicht darum, dass jeder Ton sitzt», beschreibt Chor-Mitglied Orazio seine Motivation am gemeinschaftlichen Stimmbänderdehnen. Dem kann Seraina nur beipflichten, die nach dem Altstadt-Auftritt zum Chor dazugestossen ist: «Ich mag, dass es unkompliziert ist, dass die Lieder cool sind.» Und Oli? Der erklärt sich den Chor-Boom damit, dass es, wie er sagt, einfach scheisse guttut, zu singen. Die Wissenschaft würde ihr Häkchen dahinter setzen. Bei Schlaganfall- und Demenzpatient:innen konnte die Therapie mit Musik nachweisbare Erfolge erzielen, selbst auf der Neonatologie am Zürcher Universitätsspital wird Musik zu therapeutischen Zwecken eingesetzt.

Autogarage, Proberaum – oder doch Therapiezimmer? You name it. Aktuell stehen «Nacht ader Langstrass» und «Don’t stop me now» auf dem Programm. Nicht gerade das einfachste Songmaterial – aber Lieder, die Spass machen. Dass der Sopran manchmal fast ein wenig schüchtern klingt, der Alt hin und wieder die Melodie vergisst, die Handvoll Tenöre gerne mal den Einsatz verpasst und der Bass chronisch unterbesetzt ist: geschenkt. Am Ende klingt es doch. Richtig gut sogar.

PS: Wer den Hardchor live und in Aktion sehen will, sollte sich Samstag, den 15. Juni im Kalender eintragen. Dann steht der nächste grosse Auftritt am Stolze Openair auf dem Programm.

PPS: Neben dem Hardchor gibt es noch jede Menge weitere Chöre in Zürich, die sich über Zuhörer:innen und/oder Zuwachs freuen, darunter: Abelimento Chor, Akademischer Chor, Cantata Nova, ChorgassChor, Chor-Rosa, CoroVivo, Nota Bene, Quartierchor für Erwachsene, Singsation, SOFA Chor, The Singing Ship, The Generations, Vocalino, Xang&Klang.

Von Sandra Smolcic am 09. Mai 2024 veröffentlicht.

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